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Nathan der Weise – eine Annäherung

Dr. William Boehart

 Ringparabel (gelesen von Ulrich Jacobi) 


Nathan der Weise ist der Titel und die Hauptfigur eines fünfaktigen Ideendramas von Gotthold Ephraim Lessing, das 1779 veröffentlicht und am 14. April 1783 in Berlin uraufgeführt worden ist. Das Werk entstand als Lessings letzte „Streitschrift“ in der Auseinandersetzung mit dem Hamburger Hauptpastor Johann Melchior Goeze. Goeze hatte nämlich eine Zensur gegen Lessings theologische Schriften erwirkt; der streitbare Aufklärer bestieg – wie er sagte – daraufhin seine alte Kanzel, das Theater, um den Streit um die Wahrheit fortzusetzen.
 
Nathan der Weise weist eine gebrochene Wirkungsgeschichte auf. Lessing schrieb nach der Fertigstellung des Manuskripts an seinen Bruder Karl in Berlin: "Es kann wohl seyn, dass mein Nathan im Ganzen wenig Wirkung tun würde, wenn er auf das Theater käme, welches wohl nie geschehen wird…“. Der Dichter sollte Unrecht behalten. Auch in Bezug auf seinen Nachsatz? „Genug, wenn er sich mit Interesse nur lieset, und unter tausend Lesern nur einer daraus an der Evidenz und Allgemeinheit seiner Religion zweifeln lernt.“
 
Obwohl als Druck ein Verkaufserfolg, kam es erst 1783 in Berlin zu einer Uraufführung, die missglückt war. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich das Werk zum Klassiker. Zwischen 1933 und 1945 war es – es versteht sich – von den Spielplänen verschwunden. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist es – so zu sagen als Wiedergutmachungsdrama – das meist gespielte Theaterstück auf Deutschen Bühnen, und nach dem Terrorangriff auf das World Trade Center in New York vom 11. September 2001 gewann Nathan wieder eine „brennende“ Aktualität und eine entsprechende Würdigung auf den Bühnen der ganzen Welt.

Vordergründig eine Auseinandersetzung über den Wahrheitsanspruch der drei abrahamitischen Religionen vor dem Hintergrund einer rührenden Familiengeschichte, dreht es sich eigentlich um die politische und persönliche Bedeutung der Wahrheitssuche. Der Streit um die wahre Religion, der so anschaulich in der berühmten Ringparabel erzählt wird, nutzt Lessing als eine für seine Zeitgenossen nachvollziehbare Maske, um sein eigentliches Anliegen auf der Bühne darstellbar zu machen. Es geht um die hehren Begriffe Toleranz und Humanität, diese Werte sind aber nur dann erlebbar und zur gesellschaftlichen Geltung zu bringen, wenn sie im Charakter der Menschen verankert sind. 
Nathan (wie Lessing) beherrscht das „Spiel mit den Masken“, eine Art „List der Vernunft“, wie seine Gesprächsstrategien im Laufe der Handlung belegen. Nathan kommt mit seinem Gegenüber stets „ins Gespräch“ – mit viel Takt, Intelligenz und Humor. Er lässt dabei sein Gegenüber die Menschlichkeit in sich selbst entdecken. Es sind die heiteren Stellen im Drama, unterhaltsam und witzig. Dahinter verbirgt sich das Ernste, das nicht Ausgesprochene, das den Kern des Werks bildet. Die zentrale Stelle ist das Gespräch mit dem Klosterbrucher (4. Akt/7), in dem Nathan die Geschichte seiner Familie erzählt, die während eines Pogroms von Christen ermordet wurde. Er schließt mit der Forderung: „Hier braucht’s That!“ Die Wahrheit ist kein System, und kann schon gar nicht von einer Religion (oder irgendeiner Ideologie, möchte man heute sagen) vereinnahmt werden. Wahrheit ist in der moralischen Fähigkeit eines jeden Einzelnen zu suchen, sich selbst als handelndes und wertschöpfendes Wesen zu begreifen. Wahrheit drückt sich nur in Taten aus. Man erinnert sich an Faustens Übersetzung des Johannes Evangeliums „Am Anfang war die That!“.
 

Die Ringparabel oder: Warum ist Nathan der „weise Nathan“?

„Nicht die Kinder bloß, speist man mit Märchen ab“ – so überlegt sich Nathan vor Beginn des Gespräches mit Saladin, nachdem dieser ihn aufforderte, den „wahren Religion“ zu benennen. Die Ringparabel ist ein Märchen, eine witzige Erzählung, die Nathan aus der bösen Falle helfen soll, die ihm der Sultan gelegt hat. Die Ringparabel bereitet die große Umarmung vor, mit der das Drama beendet wird.

Sie hat – vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg – den Stand eines Weihestückes, eine Art nationales Heiligtum, erreicht. Es wird als Hymne der Toleranz gefeiert. Diese Art Aneignung macht bequem, sie verstellt den radikalen Kern des Lessing’schen Theaters.
Die Ringparabel kann nur vor dem Hintergrund Nathans Biografie verstanden werden. Seine ganze Familie, Frau und sieben Kinder, sind in einem Pogrom von Christen grausam ermordet worden. Der Überlebende bekommt aber eine zweite Chance, als er das christliche Findelkind Recha, die mitten im mörderischen Krieg verwaist wurde, annimmt. Inzwischen ist Nathan ein reicher Geschäftsmann in Jerusalem – so fängt das Drama an. Er lebt nach wie vor gefährdet, sozusagen auf einer schiefen Bahn. Der Muslim Saladin ist der weltliche Herrscher, die Christen, vertreten durch den Patriarchen, haben ein Konkordat mit dem Sultan geschlossen und üben Macht aus. Die Juden sind diesen Herrschern weitgehend schutzlos ausgesetzt. Nathan muss vorsichtig agieren. Seine einzige Waffe ist das Wort, das Gespräch mit seinem Gegenüber. Wie kommt man ins Gespräch mit einem Mächtigen? „Nicht die Kinder bloß, speist man mit Märchen ab“. Nathan erhöht den Sultan am Ende der Erzählung so hoch („Wenn du dich fühlest, dieser weisere/ Versprochne Mann zu sein“), dass dieser seiner Menschlichkeit bewusst wird. Der mächtige Krieger und Herrscher wird plötzlich Mensch („Ich Staub? Ich Nichts?“). Die Weisheit Nathan beruht in seiner Menschenkenntnis und in seiner Gesprächsstrategie. Es ist die Weisheit des Kaufmanns, nicht die des Intellektuellen.
Nathan ist kein Zyniker, er versucht nicht, seinen Gesprächspartner mit einem überlegenen Wissen zu verarschen. Nathan will das echte, zwischenmenschliche Gespräch. Er setzt das Gute in seinem Gegenüber voraus und versucht, es an den Tag zu fördern. Es gelingt ihm, weil Lessing, der Autor, es gelingen lässt. Und in der gesellschaftlichen Wirklichkeit Deutschlands seit 1779? Wir sollen es einmal aussprechen: Nathan wurde in Auschwitz vergast.
Der einzige Monolog Nathans im ganzen Stück findet gleich vor Beginn der Ringparabel statt. Nathan sucht fieberhaft nach einem Ausweg. Der Sultan will Wahrheit – wie eine bare Münze, die man in Sack streichen kann („Wer ist denn hier der Jude?/ Ich oder er?“). Nathan überlegt, was ist „für einen Großen denn zu klein“, als er die Lösung erahnt: „Gewiß, gewiß: er stürzte mit / Der Türe so ins Haus! Man pocht doch, hört/ Doch erst, wenn man als Freund sich naht.“
Für die Idee der Ringparabel ließ sich Lessing von Boccaccios Il Demarerone (1350-1353) anregen. Lessing hat jedoch die Geschichte durch den Spruch des Richters ergänzt, er bildet die Pointe der Erzählung. Der Mensch ist weder Gott, noch wird er von Ihm inspiriert. Der Mensch muss lernen, aus sich selbst heraus Werte, eben „humane“ Werte, zu entwickeln. Dies ist die „Arbeit an der Aufklärung“, die von Nathan exemplarisch geleistet wird. Die Notwendigkeit dieser Arbeit zu erkennen, ist aller Weisheit Anfang.  
Es gibt viel zu tun: Hier braucht’s That! 
 
Ab dem 12. Oktober 2008 wird Nathan der Weise im Kleinen Theater Schillerstraße aufgeführt.
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